Zwei Staatenmodelle im Widerstreit

Sheinbaum
Präsidentschaftskandidatin Claudia Sheinbaum
Foto: Tania Victoria/ Secretaría de Cultura CDMX via flickr
CC BY 2.0 Deed

(Mexiko-Stadt, 12. April 2024, marcha).- Am 2. Juni wird das mexikanische Volk an die Wahlurnen gehen, um ein neues Regierungsoberhaupt zu bestimmen. Zudem werden der Senat und der Kongress neu besetzt und 30 der 32 Landesvertretungen gewählt. Für die Präsidentschaftswahl kandidieren zwei weibliche und ein männlicher Kandidat. Die Umfragen sehen Claudia Sheinbaum von Andrés Manuel López Obradors Partei MORENA als Favoritin, gefolgt von Xóchitl Gálvez, die für ein Bündnis der drei großen Parteien PRI, die PAN und die PRD antritt.

Wir sprachen mit Alejandra Galicia (AG), Politikwissenschaftlerin und Lateinamerikanistin, Forscherin für Sozialwissenschaften und Regionalstudien an der Autonomen Universität des Bundesstaats Morelos, und Francisco Cerón (FC), Politikwissenschaftler, Übersetzer und Dozent an der UNAM, um die Einzelheiten dieser Wahl besser zu verstehen.

 

Wo liegt der Schwerpunkt der Auseinandersetzung der zwei Parteien im Vorfeld der Wahlen am 2. Juni?

AG: Diese Frage müssen wir auf zwei Ebenen betrachten, zum einen im Hinblick auf die Staatsform: Wir haben hier zwei gegensätzliche Modelle, die einander gegenüberstehen: den Staat, der das öffentliche Leben der Gesellschaft regelt, und den minimalen oder ausgedünnten Staat, den wir mindestens seit den 1980er Jahren kennen. Die derzeitige Regierung favorisiert einen Wohlfahrtsstaat, der soziale Rechte garantiert und seine Rolle in wichtigen Bereichen wie der nationalen Souveränität und der Nutzung der Ressourcen ausbaut und in gewisser Weise auch die Teilhabe von mehr politischen Akteuren in das öffentliche Leben gewährleistet.

Auf einer zweiten Ebene geht es um zwei verschiedene Gesellschaftsmodelle: auf der einen Seite die individualistische Gesellschaft, die das private Modell als optimal für die Entwicklung des sozialen Lebens ansieht, und auf der anderen Seite ein viel komplexeres Modell, bei dem die Gesellschaft staatlich garantierte Rechte hat, aber auch politisch aktiv sein muss, um diese Rechte zu bewahren.

Worauf kommt es bei der Wahl an?

FC: Man könnte sagen, es sind vier verschiedene Schlüsselpunkte: die Fortsetzung der sogenannten Vierten Transformation [nach Unabhängigkeit, Reform und Revolution versprach AMLO im Vorfeld der Wahlen die Vierte Transformation: Veränderungen im Bereich des öffentlichen Lebens, Anm. d. Übers.], und das in zweierlei Hinsicht: durch stärkeres Eingreifen des Staats in das politische Leben und in die Wirtschaftspolitik und durch die Umstrukturierung des politischen Systems; ein weiterer Schlüssel könnte die Wahrung der nationalen Souveränität sein, insbesondere im gegenwärtigen geopolitischen Kontext; ein dritter Schlüssel ist die Anpassung der Eliten an bestimmte politische Mechanismen, die innerhalb dieses Regimes hervorkommen; und ein letzter Schlüssel, den ich für den attraktivsten halte, ist die Politisierung der verschiedenen Gruppen, aus denen sich die mexikanische Gesellschaft zusammensetzt, sozusagen eine Erweiterung des öffentlichen Raums.

AG: Die Idee der Vierten Transformation bezieht sich auf die Umstrukturierung bestimmter Bereiche des politischen Systems. Würde zum Beispiel die Partei PRD verschwinden und PRI und PAN in eine große Repräsentationskrise geraten und wichtige Gouverneursposten wie Yucatán oder Guanajuato verlieren, dann wäre das Parteiensystem so umgestaltet, dass es zu einer Änderung des Wahlsystems käme. Das Nationale Wahlinstitut könnte anstelle von Wahlen oder zusätzlich zu Wahlen andere Repräsentationsmechanismen organisieren und den Bürger*innen andere Möglichkeiten geben, von ihrer Stimme Gebrauch zu machen, zum Beispiel durch Volksbefragungen.

Welche politischen Akteure gewinnen an Bedeutung? 

AG: In Mexiko sind indigene Gruppierungen und Volksgemeinschaften keine Rechtssubjekte. Aber neulich wurde ein Reformvorschlag ins Gespräch gebracht. Wir können also hoffen, dass es künftig Veränderungen hin zu einer pluralistischeren Gesellschaft gibt.

Wofür steht Claudia Sheinbaum in Bezug auf die derzeitige Regierung, welche Kontinuitäten und Veränderungen sind zu erwarten? 

AG: Wir glauben, dass Claudia für die Fortführung der Vierten Transformation steht. Das heißt, die Konsolidierung eines Projekts, das nach neuen Prinzipien funktioniert und ein veraltetes Konzept ersetzen kann. Wirtschaftlich bedeutet das, dass der Staat der Hauptakteur ist und bestimmte Sektoren der Wirtschaftsgruppen in Schach halten kann. In ideologischer Hinsicht geht es um die Frage, inwieweit das Volk weiterhin als Hauptakteur fungiert. AMLOs Migrationspolitik wird Claudia sicherlich fortsetzen, insbesondere hinsichtlich der Beziehung zu den USA. Aber sowohl die Migrationsströme aus Mexikos als sicherem Staat als auch die Migrant*innen, die in den USA leben, spielen eine wichtige Rolle innerhalb der Vierten Transformation, nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in politischer und ideologischer Hinsicht.

FC: Was die Veränderungen betrifft, so sehen wir im Moment drei offensichtliche Unterschiede. Der erste ist das so genannte öffentliche Pflegesystem, ein Thema, das in den Wahlkämpfen diskutiert wird. Die Idee ist Teil der Vierten Transformation und würde unter einer Regierung Sheinbaum weiter vertieft. Außerdem werden die feministischen Bewegungen, die während der Regierung von Andrés Manuel weitgehend an den Rand gedrängt wurden, eine wichtige Rolle spielen. Mit Claudia an der Regierung würden ihre Positionen sicher in zentrale Debatten einbezogen und zumindest teilweise von der öffentlichen Politik aufgegriffen. Und: Sollte Claudia die Regierungsgeschäfte übernehmen, würde sich der Schwerpunkt mehr auf öffentliche Verwaltung verlagern, während die Regierung von Andrés Manuel viel mehr auf Verhandlungen und Politik ausgerichtet war.

Wir sehen, dass die derzeitige Regierung ziemlich viel Unterstützung genießt. Worauf basiert dieser Zuspruch, und wo liegen die Defizite? 

FC: Nun, der Zuspruch hat mehrere Gründe, zum Beispiel die soziale Kommunikationspolitik. Es besteht eine sehr enge Kommunikation zwischen der Regierung und der mexikanischen Gesellschaft, die sich nicht ausschließlich der Medienkonzerne bedient. Dazu hat die Regierung in dieser sechsjährigen Amtszeit mit Hilfe zahlreicher Programme und Subventionen eine konsequente Umverteilungspolitik verfolgt und soziale Rechte in die Praxis umgesetzt, die in der Verfassung verankert sind, aber nur wenig wahrgenommen wurden. Anders als zu Zeiten der neoliberalen Regierungen in den letzten 30, 35 Jahren ist das Narrativ eines Volkes, das eine Zukunft aufbaut, im Diskurs des Präsidenten sehr präsent. Eine Sache, die uns sehr wichtig erscheint und einen bedeutenden Platz im Regierungskonzept einnimmt, ist die Entwicklung geopolitisch strategischer öffentlicher Bauvorhaben. Der Tren Maya, der Flughafen und die Raffinerien sind wichtige Infrastrukturprojekte, die sich nicht nur auf die wirtschaftliche Entwicklung im Land, sondern auch auf die Positionierung des Landes im internationalen Kontext auswirken.

AG: Das Narrativ vom Volk als Hauptsubjekt des sozialen und politischen Wandels ist ein wichtiges Element der direkten Kommunikation, die der Präsident mit der Bevölkerung unterhält, und das halte ich für sehr wichtig: Diese Entität, die einerseits sehr abstrakt ist, in der sich aber auch die Arbeiterklasse wiederfinden kann, ist in AMLOs Narrativ Protagonistin des politischen Wandels. Diese Vorrangstellung des Volks ist neu, und das hat dem Präsidenten ein hohes Maß an Akzeptanz eingebracht. In Bezug auf die Sozialpolitik ist es meiner Meinung nach wichtig zu betonen, dass die Regierung von Andrés Manuel mit bestimmten Unternehmen konfrontiert war, die versucht haben, seine Regierung zu boykottieren und die Zahlung von Steuern zu verweigern. Anders als anderen Regierungen gelang es ihm jedoch, die Unternehmen zur Zahlung zu zwingen. Und so erklärt sich, warum Mexiko zu den wenigen Ländern gehörte, die während der Pandemie keine Schulden anhäuften. Die Steuereinnahmen trugen dazu bei, eine Wirtschaftskrise zu vermeiden, die eine Inflation hätte auslösen können.

Was die Defizite angeht, möchte ich auf einen Akteur hinweisen, von dem wir nicht wissen, wie er sich einbringen soll, nämlich das Militär. Einen großen Teil der öffentlichen Einsätze und Maßnahmen, die unter der Regierung von Andrés Manuel durchgeführt wurden, hat das Militär übernommen. Das erzeugt einerseits Ablehnung, aber andererseits sind sich viele von uns bewusst, dass keine andere Organisation diese Arbeiten in einem solchen Umfang durchführen könnte. Denken wir zum Beispiel an den Wirbelsturm, der letztes Jahr Acapulco verwüstete. Der Wiederaufbau der Stadt und die Soforthilfe für die Menschen in Acapulco wurden der Armee übertragen. Auch das war für die Regierung von Andrés Manuel eine Möglichkeit, im öffentlichen Raum Präsenz zu zeigen, wenn auch nicht durch die Bekämpfung des Drogenhandels, sondern durch die Durchführung öffentlicher Arbeiten. Wir glauben aber, dass dies ein zweischneidiges Schwert ist. Einerseits garantiert das Militär die Stabilität und Funktionsfähigkeit der Regierung, andererseits bekommt es mehr Sichtbarkeit im öffentlichen Raum, und da sollten wir ein Auge draufhaben.

Auch noch zum Thema Defizite: Wir denken, es wäre naiv gewesen zu glauben, dass die Regierung Obrador dem organisierten Verbrechen ein Ende setzen würde. Unserer Ansicht nach ist dies ein Prozess, der nicht in einer sechsjährigen Amtsperiode abgewickelt werden kann, sondern dass es einer Reihe von Ereignissen, Vorschlägen und Verhandlungen bedarf, um das organisierte Verbrechen zu regulieren und zu beenden. Das ist eine andere Diskussion, aber wir möchten darauf hinweisen, dass die Vorschläge dieser Regierung darauf abzielen, die Ursachen des Krieges gegen den Drogenhandel zu bekämpfen, zu schauen, warum so viele Menschen, so viele junge Menschen begonnen haben, den Drogenhandel als Lebensoption zu wählen. Aber es ist auch wichtig zu sehen, dass es Bemühungen gab, einen Konsens zu finden. Ich denke, das Interessante an der sechsjährigen Amtszeit von Andrés Manuel ist, dass er auch versucht hat, das Wie zu bekämpfen, das heißt, die zugrunde liegenden Probleme, wie zum Beispiel den Mangel an Perspektiven für junge Menschen.

Übersetzung: Deborah Schmiedel

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